Pressestimmen

13. August 2002
"Wie einst am Sinai ..."
Liturgische Gesänge, hebräische und jiddische Lieder

Gedenkkonzert zum 100. Geburtstag der Rabbinerin Regina Jonas (Berlin 1902 - Auschwitz 1944)

Avitall Gerstetter, Sopran, Deutschlands erste jüdische Kantorin; Waldemar Wirsing, Klavier

Frankfurter Rundschau, 15.08.2002, Seite 29

Offenbach-Post, 15. August 2002, Seite 14



Frankfurter Rundschau, 15.08.2002, Seite 29


Federleicht
Avitall Gerstetter, Kantorin und Sopranistin, im Konzert
Von Annette Becker

Eigentlich schade, dass sie in Berlin lebt und arbeitet, die erste jüdische Kantorin Deutschlands, und nicht um die Ecke in Offenbach, wo im Büsing-Palais ihr Gedenk-Konzert zum einhundertsten Geburtstag der weltweit ersten Rabbinerin Regina Jonas auf weit geöffnete Ohren und noch weiter geöffnete Herzen traf. Aber zum Glück ist die Sopranistin Avitall Gerstetter nicht nur agil, sondern auch mobil: Noch keine dreißig ist sie und hat sich mit ihren gefeierten Auftritten in Deutschland, England und den USA bereits einen beeindruckenden Weg gebahnt.

Den man ihr kaum glauben mag, wenn sie im Windschatten ihres fast zwei Köpfe größeren Pianisten Waldemar Wirsing mit raschen kleinen Schritten die Bühne betritt, zum Umpusten schmal, in fließenden schwarzen Samt gehüllt. Die rotblonden Locken, die ein feines Gesicht mit großen Augen umrahmen, sind von einer Art Pillbox aus hellem Brokat gekrönt. Die trägt sie als Zeichen ihres Glaubens. Die Kippah, die traditionelle Kopfbedeckung der Männer, möchte sie sich nicht anmaßen, auch, um orthodoxe Gläubige nicht unnötig zu provozieren. Beschützerinstinkte löst sie aus, wie eine Märchenprinzessin, der es gebührt, auf Händen getragen und von allen anstrengenden Dingen verschont zu werden.

Die Stimme der Kantorin ist ein federleichter, manchmal etwas eng tremolierender Sopran mit nasal-dunklem Alt-Timbre in den Vokalen, wie gemacht für die hebräischen und jiddischen, vorwiegend liturgischen Gesänge mit ihren teils romantischen, teils traditionellen Melodien. Kunstvoll komponiert wie Maurice Ravels komplexes aramäisches Kaddish und Jules Massenets aufgewühlte Elegie. Oder auch ganz schlicht wie das deutsche Gemeindelied Willkommen zum Frieden, ihr Engel der Weihe aus Offenbach, wo eine der ersten deutschen Reformgemeinden des 19. Jahrhunderts die Traditionen ihrer Umwelt in das religiöse Leben integrierten.

Hell und gewinnend auch Avitall Gerstetters Sprechstimme mit dem sanft singenden Tonfall, die die Gemeinderoutine verrät, denn sie erklingt regelmäßig in der Öffentlichkeit: Seit Dezember 2001 amtiert die Kantorin an der Synagoge Oranienburger Straße und der Synagoge Hüttenweg in Berlin. Für die Berliner Hochschule der Künste, an der sie Gesang, Klavier, Klarinette und Tanz studierte, konzipierte sie das Seminar "Unsere fremde Musik: Jüdische Musik und kulturelles Leben in Berlin", das sie im Sommer 2001 erstmalig hielt. Im Sommer 2002 leitete die junge Frau, die für ihre religiöse Ausbildung zwischen Abitur und Hochschulstudium eine Jerusalemer Jeschiwa besuchte, am Pädagogisch-Theologischen Institut des Bildungswerks der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg das Seminar "Das jüdische Jahr".

Auch die 1944 in Auschwitz-Birkenau ermordete Rabbinerin Regina Jonas lebte und arbeitete in Berlin. Dort wurde sie am 3. August 1902 geboren, besuchte die Jüdische Mädchenschule und das öffentliche Oberlyzeum in Berlin-Weißensee. An der "Hochschule für die Wissenschaft des Judentums" bereitete sie sich gemeinsam mit 155 Kommilitonen auf das Amt des Rabbiners vor. Anders als ihren 27 Kommilitoninnen genügte es ihr nicht, Religionslehrerin zu werden; sie musste sich dann aber doch mit Religionsunterricht und allgemeiner Seelsorge über Wasser halten, weil die konservative Berliner Gemeinde sie trotz ihrer Ordination durch den Offenbacher Rabbiner Max Dienemann am 27. Dezember 1935 nicht als Rabbinerin einstellen wollte.

Am 13. August 2002, kurz vor dem vom Kulturamt der Stadt Offenbach gemeinsam mit der Max Dienemann / Salomon Formstecher-Gesellschaft veranstalteten Gedenkkonzert, benannte die Stadt Offenbach einen Weg im Büsingpark nach der mutigen Frau. Parallel zur Kaiserstraße verläuft nun der Regina-Jonas-Weg. Symbolträchtig kreuzt er den 1999 nach dem liberalen Offenbacher Rabbiner benannten Max-Dienemann-Weg.

Die 1999 aufgenommene CD von Avitall Gerstetter und Waldemar Wirsing Die Jüdische Stimme kann zum Preis von 15 Euro über gerstetter@t-online.de bestellt werden und kommt in Kürze offiziell in den Handel. Im Herbst dieses Jahres soll eine zweite CD mit liturgischen, hebräischen und jiddischen Liedern erscheinen. Im Jahre 1999 veröffentlichte die Berliner Journalistin Elisa Klappheck die nach dem Titel von Regina Jonas' Examensarbeit benannte Biografie Fräulein Rabbiner Jonas - Kann eine Frau das rabbinische Amt bekleiden? Das Buch ist im Verlag Hentrich & Hentrich erschienen und kostet 20 Euro.

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Offenbach-Post, 15. August 2002, Seite 14

Jiddische Gesänge rührten an
Kantorin Avitall Gerstetter mit einzigartigen Liedern im Offenbacher Büsingpalais

Wenn sie ihre Stimme erhebt, füllt sie den Raum sofort mit Würde, Eleganz und wirkt von Anbeginn charismatisch. Avitall Gerstetters Sopran findet seine Ausdruckskraft und Geschmeidigkeit freilich nicht im klassischen Liedgut oder im dramatischen Fach. Ihre Domäne - und das macht sie einzigartig - sind hebräische und jiddische Lieder, zudem liturgische Gesänge.

Im Offenbacher Büsingpalais stellte sie ihre Kunst in den Dienst der Rabbinerin Regina Jonas, die dieser Tage ihren 100. Geburtstag gefeiert hätte. In Offenbach 1935 von Dr. Max Dienemann, einem der bedeutendsten, liberalen Rabbiner des 20. Jahrhunderts, ordiniert, war Jonas die erste Rabbinerin im Judentum. Gerstetter, Deutschlands einzige jüdische Kantorin, begann ihr von der Max Dienemann / Salomon Formstecher-Gesellschaft initiiertes Konzert unter dem Motto "Wie einst am Sinai ..." mit der ergreifenden Melodie "Schalom Alechem", ein Tischgebet kabbalistischen Ursprungs. Der jüdischen Zahlenmystik und Geheimlehre verpflichtet war auch der Psalm 93, dem sich Lieder des Komponisten Louis Lewandowski anschlossen.

Stets in sich ruhend, auf die Ausdruckskraft ihrer Stimme konzentriert, sang die in ein traditionelles schwarzes Gewand gekleidete Künstlerin mit viel Emphase und Spiritualität. Das kam besonders Maurice Ravels "Kaddish" zugute, einem in aramäischer Sprache gesungenen Gebet für die Verstorbenen. Ideal arbeitete ihr dabei Waldemar Wirsing am Klavier zu: Ein zurückhaltender, stets auf klangliche Ausgewogenheit bedachter Pianist, der mit Gerstetter bereits seit drei Jahren zusammenarbeitet. Auch im zweiten Teil des sehr gut besuchten Konzertes glutvolle Glaubensbekenntnisse. Besonders ergreifend "Jerushalayim shel zahav", ein Lied, das nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 entstand, und vor allem die Elegie, ein zu Herzen gehendes Klagelied von Jules Massenet. Doch auch Hoffnungsfrohes stand auf dem Programm des klanglich schillernden Liederabends. "Glik" - Glück - etwa, in dem es heißt: "Ich habe für einen Moment das Glück in meinen Händen und ich tanze den letzten Tanz mit dir." Lang anhaltender Beifall war der Lohn für diesen wunderbaren Abend im Büsingpalais.

JOACHIM SCHREINER

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