"Ein Vorkämpfer der Reformbewegung" [*]

Von Anton Jakob Weinberger

Wir wollen heute Abend an einen Mann erinnern, dessen Lebensspanne sich über eine Epoche erstreckt, die für die Juden in Deutschland von nicht zu überschätzender Bedeutung ist: die Epoche der Emanzipation. Als Salomon Formstecher 1808 in Offenbach geboren wurde, lag die vollständige bürgerliche Gleichstellung der Juden noch in der Ferne. Sieben Jahrzehnte später ernannte die Stadt Offenbach Rabbiner Formstecher als ersten Juden zum Ehrenbürger. Dazwischen lag das wechselvolle Ringen der deutschen Juden, nicht nur als Deutsche anerkannt, sondern ebenso in ihrem Jüdischsein akzeptiert zu werden. Am Ende dieser Zeitspanne standen nicht nur das Erstarken des aggressiven Rassenantisemitismus und der Beginn des Abwehrkampfs der deutschen Juden, sondern auch das Aufkommen eines neuen jüdischen Nationalbewusstseins, des Zionismus.

Mit Bedacht haben wir den Gedenkabend aus Anlass des 200. Geburtstags von Rabbiner Formstecher als Auftakt für eine Veranstaltungsreihe gewählt, die den Titel trägt: "Deutsches Judentum - Leistungen, Grenzen, Vermächtnis." Es war das deutsche Judentum, das im 18. Jahrhundert den Weg aus dem "langen jüdischen Mittelalter" bahnte, das soziale wie das geistige Ghetto verließ und mit einer Verspätung von drei Jahrhunderten den Anschluss an die allgemeine Kultur suchte.


Eintritt in die Neuzeit

Mit dem Eintritt in die Neuzeit beschleunigte sich der unter äußerem und innerem Druck stattfindende Zerfall dessen, was der israelische Soziologe S. N. Eisenstadt das "rabbinische Modell" genannt hat und dessen Kern die "mündliche Lehre" ist. Diese Lehre ist zentriert um die "Halacha", (von hebräisch "halach" für "gehen" hergeleitet). Schalom Ben-Chorin umschreibt diese Lehre als "Geh-Vorschrift für den Menschen". [1] Als Elemente dieses Modells nennt Eisenstadt in seiner Studie "Die Transformation der israelischen Gesellschaft" die "wachsende Betonung rechtlich-ritueller Vorschriften, gestützt auf Exegese, Studium und kontinuierliche Fortentwicklung der Texte und/oder des Gemeinschaftsgebetes als Mittelpunkt oder Schauplatz der jüdischen Religion und Tradition". [2] Unter der Vorherrschaft dieser schließlich im Talmud schriftlich niedergelegten "mündlichen Lehre" verschmolzen unterschiedliche Elemente im Leben der Juden: die Zugehörigkeit zum "Haus Israel", die Einhaltung des religiösen Ritus und eine Lebensführung, die unter Gottes Ge- und Verboten steht. Hüter dieser "Einheitskultur" waren seit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 die Rabbiner gewesen.

Als ein Katalysator des Zerfalls des "rabbinischen Modells" muss die im 17. Jahrhundert entstandene Erweckungsbewegung des falschen Messias Sabbatai Zwi angesehen werden. Die Erschütterung, die die jüdische Welt durch dessen Betrug erfuhr, war in Offenbach noch wenige Jahre vor der Geburt Formstechers zu spüren. Denn um 1788 ließ sich hier der Sektierer Jakob Frank nieder, der sich als Inkarnation des von seinen Anhängern weiterhin verehrten Sabbatai Zwi und somit selbst als Messias ausgab. 1791 starb Frank, der im Isenburger Schloss gelebt hatte, in Offenbach. An die Spitze der Sekte trat seine Tochter Eva, die als "weiblicher Messias" galt. Sie starb 1816 ebenfalls hier. Die bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts wirkenden Frankisten können als die letzen Ausläufer des "langen jüdischen Mittelalters" angesehen werden.

Als eine Antwort auf den Einbruch der Moderne ins Judentum entstanden im Osten Europas - fast zeitgleich mit Moses Mendelssohns aufklärerischem Wirken - die volksnahe, mystische Strömung des Chassidismus und in Westeuropa Anfang des 19. Jahrhunderts die jüdische Reformbewegung.


"Die Religion des Geistes"

Wir haben den heutigen Gedenkabend zur Ehren von Rabbiner Formstecher unter den Titel gestellt "Ein Vorkämpfer der Reformbewegung". Mit dieser Formulierung greifen wir ein Wort des 1999 gestorbenen Religionswissenschaftlers Schalom Ben-Chorin auf. [3]

Zutreffend ist Ben-Chorins Würdigung vor allem deshalb, weil es Formstecher als erster Rabbiner und Gelehrter unternommen hat, die jüdische Religion unter den Vorzeichen der Moderne philosophisch zu begründen. Ihm folgten - mit teils abweichendem, teils gegensätzlichem Zugang - alsbald Samuel Hirsch und Salomon Ludwig Steinheim. Ein Jahr bevor Formstecher zum Rabbiner der Israelitischen Religionsgemeinschaft in Offenbach berufen wurde, 1841, legte er sein philosophisches Hauptwerk vor: "Die Religion des Geistes, eine wissenschaftliche Darstellung des Judenthums nach seinem Charakter, Entwicklungsgange und Berufe in der Menschheit". [4]

Es geht in diesem Werk nicht um die zentralen praktischen Anliegen der Reformbewegung. Formstecher ist es nicht um Ritus und Kultus zu tun, auch nicht um die Gestalt des Gottesdienstes, die Frage, ob Orgelmusik in der Synagoge erlaubt sein solle oder nicht, auch nicht darum, die Predigt in deutscher Sprache im Gottesdienst zuzulassen, den Stellenwert der "Heiligen Sprache", des Hebräischen, im Gottesdienst zu bestimmen, ebenso wenig um die Arbeitsverbote an Schabbat. Doch ist Formstechers philosophische Arbeit für die um die Mitte des 19. Jahrhunderts nach Orientierung suchende Reformbewegung von grundlegender Bedeutung. Moses Mendelssohn - mit Lessing befreundet, von Kant bewundert - hatte die Tore des geistigen Ghettos, in welches das mittelalterliche Judentum eingeschlossen gewesen war, aufgestoßen und den Anschluss der Juden an die deutsche, die europäische Kultur eingeleitet. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts standen die Juden dann vor der Frage, die das Professorenehepaar Heinrich und Marie Simon so formuliert hat: "Warum und auf welche Weise bleibt man Jude, wenn man sich von der Umwelt kaum mehr unterscheidet?" Weiter schreiben die Simons in ihrer "Geschichte der jüdischen Philosophie": "Die Antwort auf diese Frage bildet das ideologische Fundament der jüdischen Reformbewegung. Der hier zuerst Stellung bezog war Salomon Formstecher." [5]


Ein selbstbewusstes jüdisches Gesprächsangebot

Formstecher - in Thora und Talmud ebenso gebildet wie in Philosophie, evangelischer Theologie, Philologie und Naturwissenschaften - errichtete sein Gedankengebäude auf einem religions- und einem geschichtsphilosophischen Fundament. Die Geschichte der Juden versteht er als Teil der Universalgeschichte und als eine ihrer prägenden Kräfte. Formstecher nimmt eine der Philosophien des spekulativen deutschen Idealismus auf, die Philosophie von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Doch unternimmt Formstecher, worauf der Philosoph Thomas Meyer in einer im Auftrag unserer Gesellschaft erstellten Untersuchung hinweist, "einen völlig eigenständigen Versuch ..., aus explizit jüdischer Sicht den historisch und intellektuell begründeten Ort der deutschen Juden und ihrer Identität in einer säkularisierten und nichtjüdischen Umwelt in Deutschland anzugeben". In Formstechers Hauptwerk handele es sich um ein "selbstbewusstes jüdisches Gesprächsangebot an die beiden christlichen Konfessionen" und um die frühe Zeugenschaft der "Wissenschaft des Judentums". [6] Ein auf diese Weise "zeitgemäßes Judentum" war es, gegen das sich die als Reaktion auf die Reformbestrebungen entstandene Neo-Orthodoxie des Rabbiners Samson Raphael Hirsch richtete. Gleichwohl suchte auch Hirsch jüdische und weltliche Bildung miteinander zu verbinden, war auch er ein Repräsentant des deutschen Judentums.

In seinem philosophischen Hauptwerk variiert Formstecher Kernbegriffe Schellings - etwa "Geist" und "Natur" - und begründet im Rückgriff vor allem auf die Propheten die Botschaft der Hebräischen Bibel und die Berufung des Judentums zur Universalreligion, gründend in Gottes Offenbarung am Sinai und in einer darin Halt findenden Ethik. Aus Sicht Formstechers nähren die Propheten die Hoffnung auf eine Zeit, da jedermann "Gott als Vater der Menschheit" verehren und das "liebevolle Band einer Weltverbrüderung" die Menschheit umfassen werde. In den Tochterreligionen des Judentums - Christentum und Islam - sieht Formstecher die Vermittler dieser Botschaft an die heidnische Welt.

Die partikularen Formen jüdischer Religionspraxis, das, was Moses Mendelssohn das "Zeremonialgesetz" genannt hat, wähnte Formstecher auf dem Weg zu dem prophetischen Ideal als eine historisch begründete Sonderheit, die in ferner Zukunft abzulegen sein werde. Nach Ansicht von Julius Guttmann, Nestor der jüdischen Philosophiegeschichtsschreibung, hat "der Optimismus der beginnenden jüdischen Reformbewegung durch die Geschichtskonstruktion Formstechers seine philosophische Fundierung" erfahren. [7] Guttmann bescheinigt Formstecher wie den anderen modernen jüdischen Denkern aus der Mitte des 19. Jahrhunderts - Steinheim und Samuel Hirsch -, dass sie in der theoretischen Deutung des Judentums an dem ursprünglichen Sinn seiner zentralen religiösen Gedanken festhielten. [8]


Ein Zeugnis modernen jüdischen Denkens

Es ist dies nicht die Stunde, die Risse in Formstechers Gedankengebäude, dessen apologetischen Zug und manche abwegige Annahme zu untersuchen. Diese sind gewiss nicht gering zu schätzen, treten aber zurück hinter die Kühnheit des Unterfangens. Um den Wagemut und Weitblick des religionsphilosophischen Entwurfs dieses jüdischen Gelehrten zu ermessen, sei daran erinnert, dass das gebildete Bürgertum im 19. Jahrhundert das Judentum als vom Christentum überholt ansah. Hegel, der das Judentum zwar als "Religion der Erhabenheit" qualifiziert hatte, lieferte die religionsphilosophische Begründung für diese Herabwürdigung. Es war ein folgenreiches Urteil, dass Juden trotz der errungenen rechtlichen Gleichstellung bis ins 20. Jahrhundert einem ungeminderten Legitimationsdruck ausgesetzt hat.

Weder in der jüdischen noch in der christlichen Welt ist dem philosophischen Werk Formstechers seinerzeit die gebührende Aufmerksamkeit zuteil geworden. Gegenstand kritischer Würdigung wurde die "Religion des Geistes" erst, als über das deutsche Judentum das Unheil hereinbrach. Ob der Rabbiner Max Wiener, einer der "Köpfe" des jüdischen Liberalismus in der Weimarer Republik, 1933 oder der Religionswissenschaftler Hans-Joachim Schoeps im Jahr darauf: Sie nahmen trotz grundlegender Kritik den Anspruch Formstechers ernst, unter den Vorzeichen der Moderne die jüdische Religion philosophisch zu begründen. In unseren Tagen hat Thomas Meyer die "Religion des Geistes" als ein Zeugnis modernen jüdischen Denkens gedeutet, aus einer Epoche stammend, die mit der Machtübernahme Hitlers endete.

Gewiss, die Nationalsozialisten haben die deutschen Juden wieder zu Fremden gestempelt, sie aus der "Volksgemeinschaft" ausgeschlossen, außer Landes und in die Todeskammern von Auschwitz, Treblinka und Majdanek getrieben. Uns Nachgeborenen - Juden wie Nichtjuden - bleibt es aufgegeben, den Beitrag des deutschen Judentums zur Kultur dieses Landes zu vergegenwärtigen.


Anmerkungen

[*] Überarbeitete Rede bei der Gedenkveranstaltung zum 200. Geburtstag von Rabbiner Dr. Salomon Formstecher, Offenbach am Main, 27. August 2008

[1] Schalom Ben-Chorin, Narrative Theologie des Judentums, Tübingen 1985, Seite 13

[2] S. N. Eisenstadt, Die Transformation der israelischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1987, Seite 65 ff

[3] Schalom Ben-Chorin, Ein Vorkämpfer der Reformbewegung, Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, 6. Februar 1992, Seite 6

[4] Dr. Salomon Formstecher, Die Religion des Geistes, eine wissenschaftliche Darstellung des Judenthums nach seinem Charakter, Entwicklungsgange und Berufe in der Menschheit, Frankfurt 1841

[5] Heinrich und Marie Simon, Geschichte der jüdischen Philosophie, München 1984, Seite 215

[6] Thomas Meyer, Salomon Formstechers "Religion des Geistes" - Versuch einer Neulektüre, Offenbach am Main 2004, Seite 8 f

[7] Julius Guttmann, Die Philosophie des Judentums (1933). Mit einer Standortbestimmung von Esther Seidel und einer biographischen Einführung von Fritz Bamberger (1963), Berlin 2000, Seite 337

[8] ebd. Seite 351

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© Max Dienemann / Salomon Formstecher Gesellschaft e. V.