Zwei Wegbereiter moderner
jüdischer Frömmigkeit:
Regina Jonas und Max Dienemann

80. Jahrestag der Ordination von Regina Jonas zur weltweit ersten Rabbinerin


Rede zum Gedenkabend (überarbeitete Fassung)
14. Dezember 2015, Deutsches Ledermuseum,
Offenbach, 19.30 Uhr
Von Anton Jakob Weinberger
Vorsitzender der Max Dienemann / Salomon Formstecher Gesellschaft Offenbach e.V.

© Anton Jakob Weinberger


Rhein-Main-Premiere des Dokumentarfilms "Regina - Die inspirierende Geschichte der weltweit ersten Rabbinerin"

Wir freuen uns, an diesem Gedenkabend den international mehrfach ausgezeichneten Dokumentarfilm "Regina - Die inspirierende Geschichte der weltweit ersten Rabbinerin" der ungarischen Filmemacherin Diana Groó, als Rhein-Main-Premiere zeigen zu können. Die Filmemacherin hat für ihre künstlerische Dokumentation Preise bei Festivals in Jerusalem, Warschau und Ungarn erhalten, ferner Nominierungen bei weiteren internationalen Filmfestivals.

Regina Jonas
Regina Jonas
© Centrum Judaicum Berlin

Wir präsentieren diesen Film aus Anlass des 80. Jahrestags der Ordination von Regina Jonas zur ersten Rabbinerin in der Geschichte des Judentums. Dass Rabbinerin Dr. Elisa Klapheck an diesem Gedenkabend zugegen ist und zu uns sprechen wird, ist uns eine besondere Freude. Rabbinerin Klapheck hat das wissenschaftliche Standardwerk zur Ordination von Regina Jonas veröffentlicht und kenntnisreich kommentiert. Überdies begleitet Rabbinerin Klapheck die liberale Synagogengemeinschaft "Egalitärer Minjan Frankfurt", die Teil der Jüdischen Gemeinde in unserer Nachbarstadt ist.

Mit der heutigen Veranstaltung beenden wir als Max Dienemann / Salomon Formstecher Gesellschaft das Programm, das wir Ihnen aus Anlass unseres zwanzigjährigen Bestehens in diesem Jahr geboten haben. Begonnen haben wir unser Jubiläumsjahr im Januar mit einer Veranstaltung zum "Internationalen Holocaust-Gedenktag / Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz". Im Rabbiner Dr. Max Dienemann-Saal, dem Veranstaltungsraum in der früheren Synagoge an der Offenbacher Goethestraße, konnten Sie die Musik und die Lebensgeschichte des jüdischen Jazzgitarristen Coco Schumann hören, der die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz und Dachau überlebte, nicht zuletzt, weil er dort Swing spielte. Die Schauspielerin Doris Zysas und das Powerhouse Swingtett waren die Interpreten. Bericht und Musik erklangen an diesem Veranstaltungsabend aus einer Zeit der Finsternis.

Historischer Entscheid in Offenbach: die erste Frauenordination

Heute sind wir im Deutschen Ledermuseum zusammengekommen, um eines historischen Ereignisses zu gedenken, das sich nur wenige hundert Meter von hier zugetragen hat und das in die Zeit der Abenddämmerung fällt, die das deutsche Judentum Mitte der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts umfing.

Nur ein Vierteljahr, nachdem in Nazi-Deutschland die sogenannten Nürnberger Rassengesetze in Kraft traten und die Juden wieder zu "Fremden" und aus dem deutschen Volk ausgeschieden wurden, geschah in Offenbach etwas, das historisch zu nennen ist: Am 26. und 27. Dezember 1935 wurde in der Körnerstraße 12, der Privatwohnung des Rabbiners Dr. Max Dienemann, die orthodoxe Berlinerin Regina Jonas zur ersten Rabbinerin in der Geschichte des Judentums ordiniert.

Max Dienemann
Max Dienemann
© Stadtarchiv Offenbach
Offenbach, Körnerstraße 12: Das war damals in der jüdischen Welt eine bekannte Adresse, war doch Dienemann in einer der führenden Publikationen, der "Jüdischen Allgemeinen Zeitung", verantwortlich für die monatliche Beilage "Jüdische Theologie". Beiträge sollten zu Dienemann in die Körnerstraße 12 geschickt werden. Das wurde in der "Jüdischen Allgemeine Zeitung" angezeigt.

Nach Offenbach kam Regina Jonas, um die letzte Prüfung abzulegen, die ihr noch fehlte, um Rabbinerin zu werden, eine Prüfung, auf die sie schon fünf Jahre gewartet hatte. 1930 hatte sie an der liberalen Hochschule für die Wissenschaft des Judentums einen Abschluss erlangt, mit dem sie aufgrund der akademischen Prüfung als Religionslehrerin tätig sein durfte. Ihre Abschlussarbeit war einem Thema gewidmet, das sie schon viele Jahre umtrieb: "Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?" Jonas bejahte diese Frage, und ihr Prüfer, Eduard Baneth, benotete die Arbeit mit "gut".

Offenbach, Körnerstraße 12: letzte Prüfung von Jonas fürs Rabbineramt

Die letzte Prüfungsaufgabe, die ihr Rabbiner Dienemann fünf Jahre später, 1935, in Offenbach stellte, betraf ein Thema des jüdischen "Religionsgesetzes", hebräisch "Halacha" genannt. Es ging um den Gottesdienst und die Synagoge. Gesprochen wurde über Abschnitte aus dem orthodoxen Vorschriftenkompendium "Schulchan Aruch" ("Gedeckter Tisch"), entstanden im 16. Jahrhundert. Dienemann befand in dem am 27. Dezember 1935 ausgestellten Rabbinatsdiplom: "… daß sie (Anm. Regina Jonas) dazu geeignet ist das rabbinische Amt zu bekleiden."

Zwar gab es in der Geschichte des Judentums schon zuvor kluge, weise und einflussreiche Frauen. Frauen wie die "Stammmütter" Sara, Rebbeka, Rachel und Lea. Es gab die Richterin Debora. Es gab Berurja, die im nachbiblischen Schrifttum, dem Talmud, als einzige "Gesetzeslehrerin" zitiert wird und religiöse Entscheidungen fällte. Aber vor der Ordination von Regina Jonas, vollzogen vor 80 Jahren in der Offenbacher Körnerstraße durch Rabbiner Dienemann, hatte es in der jahrtausendealten Geschichte der Juden keine Rabbinerin gegeben. Die Ordination von Regina Jonas ist zudem ein Zeugnis der Selbstbehauptung des deutschen Judentums unter der NS-Diktatur, ein Zeugnis wider Rassismus und völkischem Terror.

Tor zur jüdischen Frauenemanzipation weit geöffnet

Immer wieder werden wir gefragt, warum es Rabbiner Dienemann war, der Jonas die Ordination erteilte? Und warum es in Offenbach geschah? Unsere Antwort ist: Es war nicht zufällig, dass der Liberale Rabbinerverband Deutschland Rabbiner Dr. Max Dienemann mit dieser Ordination beauftragte.

Dienemann war einer der angesehensten Rabbiner im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, nicht nur in Deutschland, sondern auch in England und Amerika, den nach Deutschland, das damals die Avantgarde im Judentum war, bedeutendsten Gemeinschaften. Dienemann war ein profunder Talmud-Kenner, ein ernster und offener Geist, humorvoll noch dazu. Zum Zeitpunkt der Ordination von Regina Jonas war Dienemann Geschäftsführer des Liberalen Rabbiner Verbands Deutschland, ferner Schriftführer im Vorstand des Allgemeinen Rabbinerverbands Deutschland, dem liberale Rabbiner und Rabbiner der sogenannten Gemeinde-Orthodoxie angehörten.

Zudem war Dienemann Vorstandsmitglied der deutschen Sektion der World Union of Progressive Judaism, dem internationalen Zusammenschluss liberaler Juden, 1926 in London unter maßgeblicher Beteiligung von Dienemann gegründet. Schon diese Liste von Ämtern und Verantwortlichkeiten zeigt, dass mit Dienemann ein Rabbiner die erste Frauenordination vornahm, der Einfluss und Autorität in der jüdischen Gemeinschaft weit über die hiesigen Grenzen hinaus genoss.

Rabbiner Dienemann hat das Tor zur Frauenemanzipation weit geöffnet, obwohl er gewiss kein Revolutionär war, eher könnte man ihn einen Konservativen nennen, religiös wie politisch, der liberale Ideen aufnahm und zu verwirklichen suchte. Sein theologisches Werk schwingt zwischen den Polen "Bewahrung" und "Erneuerung". Da Dienemann im Auftrag des Liberalen Rabbinerverbands Deutschland handelte, war die Ordination von Regina Jonas zur Rabbinerin institutionell gesichert. Mithin handelte es sich nicht um eine vermeintliche Privatordination, die Dienemann vornahm.

Frauen sollen am gesamten jüdischen Leben teilhaben

Noch aus einem weiteren Grund war es nicht zufällig, dass Rabbiner Dienemann vom Liberalen Rabbinerverband Deutschland den Auftrag erhielt, die erste Frauenordination vorzunehmen: Dienemann war schon seit vielen Jahre dafür eingetreten, dass Frauen am gesamten jüdischen Gemeindeleben gleichberechtigt teilnehmen.

Als ein Beispiel für seine Haltung zitiere ich aus einem Artikel Dienemanns von 1930, der unter dem Titel "Die Lebensgestaltung der jüdischen Frau" in der Zeitschrift "Der Morgen" erschien. Diese Zeitschrift war das wichtigste theoretische Organ des deutschen Judentums und wurde etliche Jahre von Dienemann geleitet. Der Artikel stützt sich auf eine Rede, die Dienemann 1930 in der Sommerschule des Jüdischen Frauenbunds gehalten hatte.

Der Rabbiner schreibt: "Die Frau ist heute durch Tatsachen und gesetzliche Gegebenheiten zur selbständigen Gestaltung des Gemeinschaftslebens aufgerufen. Es muß ihr zur Auswirkung ihrer Religiosität werden, dass sie nach Geltung und Mitbestimmung in allen Zirkeln des Gemeinschaftslebens unserer Tage, nicht zum letzten in der jüdischen Gemeinde selbst, verlangt." (Max Dienemann, Der Morgen, Jg. 6. 1930, Heft 5, Seite 420-430)

Plädoyer für weltzugewandte Frömmigkeit

Im "Ringen um Gott", wie Dienemann die Wirklichkeit jüdischer Frömmigkeit oft bezeichnete, war ihm die Entscheidungsfreiheit des einzelnen ein hohes Gut. In diesem Ringen gilt es, die Forderung, die Gott an den einzelnen und das Volk Israel stellt, immer wieder aufs Neue zu ergründen, zu deuten und zu befolgen. Dienemann trachtete danach, die Frömmigkeit, die im Alltag zu leben ist und keine Trennung der Lebensgebiete kennen sollte, auf die Einfachheit der biblischen Zeit zurückzuführen. Für das Leben des einzelnen wie der Gemeinschaft folgte er bei seinen Entscheidungen der Grundlinie, zu vereinfachen statt zu erschweren. Der Rabbiner suchte die "Indifferenten" in den Gemeinden, Menschen, die ihren religiösen Wurzeln entfremdet waren, für die Teilhabe am jüdischen Leben, für eine weltzugewandte Frömmigkeit zurückzugewinnen. Die Einheit der jüdischen Gemeinschaft zu wahren, ohne die Unterschiede ihrer Strömungen zu leugnen, war eines seiner Ziele.

Aus dieser liberal-konservativen Haltung lässt sich erklären, warum Dienemann zu einem Pionier der Frauenemanzipation im Judentum wurde. Dienemann mahnte Regina Jonas, nicht ungestüm die Anstellung zur Rabbinerin zu betreiben. Aus diesem Ratschlag des Rabbiners spricht nicht Zaghaftigkeit, sondern Umsicht und Fürsorge für seine Kollegin. Der Rabbiner wusste: Eine "religionsgesetzliche", eine halachische Entscheidung, und darum handelte es sich bei der ersten Rabbinerordination einer Frau, erhält nur in dem Maße Geltung, wie die jüdische Gemeinschaft die Entscheidung annimmt.

Entscheidend ist: Trotz der vehementen Ablehnung der Ordination von Regina Jonas durch die Orthodoxie und obwohl die Ordination auch im liberalen Judentum, der damals zahlenmäßig größten Strömung im deutschen Judentum, wurde die Rechtmäßigkeit der Ordination nicht angezweifelt.

Die beispielhafte Ordination einer Frau zur Rabbinerin konnte ihre Wirkung damals nicht entfalten. Der Terror der Hitler-Diktatur stand dagegen. Rabbiner Dienemann und seine Frau Mally wurden nach dem Novemberpogrom 1938 gezwungen, Deutschland zu verlassen. Dienemann, der schon im Dezember 1933 im Konzentrationslager Osthofen und 1938 im KZ Buchenwald interniert wurde, emigrierte nach Palästina. Wenige Wochen später, am 10. April 1939, starb er in Tel-Aviv.

Regina Jonas, die vermehrt rabbinische Aufgaben in der Berliner Gemeinde und Gemeinden in Norddeutschland wahrnahm, wurde zusammen mit ihrer Mutter 1942 deportiert. Von Theresienstadt aus kamen beide 1944 nach Auschwitz, wo sie von den Nazi-Schergen ermordet wurden.

Dankbar erinnert

Erst 1972 folgte in den USA mit Sally Priesand die Ordination einer weiteren Frau zur Rabbinerin. Mittlerweile gibt es weltweit mehr als 400 Rabbinerinnen, darunter auch solche konservativer und orthodoxer Herkunft.

Büsing-Park
Rabbiner-Wege im Büsing-Park
© Max Dienemann / Salomon Formstecher-Gesellschaft

In Offenbach erinnert das Ensemble der "Rabbiner-Wege im Büsing-Park" an die Rabbiner Max Dienemann, Regina Jonas und Salomon Formstecher. Es ist dies ein bundesweit einzigartiges Merkzeichen zur Geschichte des deutschen Judentums. Wer diese Wege entlanggeht, wird an eine Stelle kommen, an welcher der Dr. Max Dienemann-Weg auf den Regina Jonas-Weg trifft.

Für die Energie und Kühnheit, die Regina Jonas aufbrachte, Rabbinerin zu werden, für den Mut und die Weitsicht, mit der Rabbiner Dienemann dieses Ansinnen Wirklichkeit werden ließ, sollten wir Nachgeborenen, welcher Religion und Weltanschauung wir angehören mögen, dankbar sein.

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© Max Dienemann / Salomon Formstecher Gesellschaft e. V.